1. Einleitende Überlegungen
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Tóth József–V. Szabó László (eds) (2025): Übersetzung und kulturelles Gedächtnis – Translation and Cultural Memory. : Akadémiai Kiadó – Pannon Egyetemi Kiadó.
https://doi.org/10.1556/9789636641863 Letöltve: https://mersz.hu/dokumentum/m1360uukg__83/#m1360uukg_81_p1 (2025. 12. 18.)
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Tóth József, V. Szabó László, eds. 2025. Übersetzung und kulturelles Gedächtnis – Translation and Cultural Memory. : Akadémiai Kiadó – Pannon Egyetemi Kiadó. https://doi.org/10.1556/9789636641863 (Letöltve: 2025. 12. 18. https://mersz.hu/dokumentum/m1360uukg__83/#m1360uukg_81_p1)
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Tóth J., V. Szabó L. (eds) (2025). Übersetzung und kulturelles Gedächtnis – Translation and Cultural Memory. Akadémiai Kiadó – Pannon Egyetemi Kiadó. https://doi.org/10.1556/9789636641863. (Letöltve: 2025. 12. 18. https://mersz.hu/dokumentum/m1360uukg__83/#m1360uukg_81_p1)
Ein
Versuch, Kulturrealien zu definieren, führt notgedrungen zur Frage
nach Realien schlechthin, die semantisch aus dem lateinischen Wort res stammen,
womit man generell bei den „Dingen“ angekommen ist, was immer sie
bedeuten wollen. Es ist nun eine erkenntnistheoretisch seit Langem
diskutierte Frage, ob sich die „Dinge“ an sich erkennen lassen, oder
aber ihre Erkenntnis nichts anderes sei als eine Vorstellung, d. h.
eine mentale Abbildung derselben. Will man die Dinge (Gegenstände)
begreifen, so entstehen im erkennenden Bewusstsein eben Begriffe gleichsam
als geistige Abdrücke, die aber nicht mehr Dinge oder Gegenstände
an sich, sondern ihre geistigen Äquivalenten sind, d. h. Vorstellungen,
deren Entstehung aber nicht nur vom betreffenden „Ding“, sondern auch
von subjektiven oder objektiven Faktoren, wie etwa Erfahrungen psychologischer
oder kultureller Natur, beeinflusst werden. Unsere Erkenntnisse sind
psychologisch und kulturell „gefärbt“; was wir als Wahrheit der Erkenntnis
wahrnehmen wollen, ist letztendlich ein Ergebnis unserer mehr oder
weniger subjektiven Kulturerfahrung.
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Wenn man sich – etwa im Prozess des Lesens oder
Übersetzens – ein res vergegenwärtigt, so ist
damit nicht besagt, dass es vollkommen identisch sein muss mit dem
Gegenstand, der dem Autor/der Autorin (im Folgenden: ‚Autor‘) beim
Schreiben des Textes vorschwebte. Der in der Einbildung des Lesers
„entstandene“ Gegenstand kann in vielerlei Hinsicht abweichen von
jenem, der vom Autor intendiert wurde. Dies umso mehr, je größer die
Kulturdifferenz zwischen Autor und Leser bzw. zwischen dem Kulturmilieu
der Produktion und jenem der Rezeption des Textes. Mit dem Übersetzer
kommt allerdings ein weiterer Akteur ins Spiel, der sich nicht nur
zwischen Autor, Text und Leser stellt, sondern gleichzeitig die Rolle
einer Vermittlungsinstanz zwischen zwei (oder gar mehreren) Sprachen
und Kulturen übernimmt. Übermittlung bzw. Übertragung der Sprache(n)
ist auch Übermittlung der Kultur(en): Geht man von diesem Grundsatz
aus, so liegt die Annahme nahe, dass Realien vielmehr Kulturrealien
sind. In der Tat könnte man geneigt sein, alle Realien gleich als
Kulturrealien zu betrachten: Eine solche semantische Gleichstellung
würde allerdings einem weitgefassten Kulturbegriff entsprechen, einem
also, der sich auf alle Gegenständlichkeiten ausdehnt und sozusagen
keine Tasse Kaffee an sich und „isoliert“, sondern nur in kulturellem
Kontext betrachtet.
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Das
wäre also ein radikaler Kulturbegriff, dem nichts entgeht, der also
alle Objekte der äußeren Welt gleichsam einverleibt. Nun weiß man
zunächst, dass die Etymologie des Wortes ‚Kultur‘ auf den Ackerbau
(Pflug und pflegen) der römischen Zeiten (cultura), also
auf die Gegenständlichkeiten landwirtschaftlicher Arbeit zurückverweist
und erst in der Neuzeit einen geistig-moralischen Inhalt erlangte.1 Die
Materialität der Objekte erhielt damit eine geistig-kulturelle Dimension
oder, um es so zu formulieren, Realien „begannen“ Kulturrealien zu
werden. Die differentia specifica zwischen Kultur
in diesem modernen vs. ihrem alten, materiellen Sinn wurde damit der
„Geist“, was man auch darunter verstand oder versteht, also ein spiritueller
Inhalt, den man der Kultur bis heute nicht abstreiten kann. Zur Geschichte
des ‚Kultur‘-Begriffs gehören zudem seine konzeptuell-weltanschaulichen
Gegenüberstellungen (Dichotomien) wie Natur und Kultur, Natur und
Geist, Natur und Idee ebenso wie Versuche der Relativierung oder gar
Dekonstruktion solcher semantischen Oppositionen.
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Tóth J., V. Szabó L. (eds) (2025). Übersetzung und kulturelles Gedächtnis – Translation and Cultural Memory. Akadémiai Kiadó – Pannon Egyetemi Kiadó. https://doi.org/10.1556/9789636641863. (Letöltve: 2025. 12. 18. https://mersz.hu/dokumentum/m1360uukg__83/#m1360uukg_81_p4)
Der Begriff ‚Kultur‘ weiß eine
lange Geschichte hinter sich von ihrer ursprünglichen, konkreteren
Bedeutung bis hin zu ihren abstrakten, komplexen Definitionen in den
heutigen Kulturtheorien. Sie weist heute eine Unzahl von Definitionen
und Beschreibungsmodellen auf, etwa als Sozialisationsprozess (Geert
Hofstede), als „Zwiebelschale“ (Alfons Trompenaars) mit der äußeren
(Essen, Sprache, Kleidung: „explizite Kultur“) und mittleren „Schale“
(Werte und Normen) sowie mit dem „Kern“ (grundlegende Annahmen über
die menschliche Existenz überhaupt); oder als „Eisberg“ mit manifesten
Erscheinungsformen wie menschliches Verhalten, (Körper)Sprache, Tracht
„über dem Wasserspiegel“ und (latenten) Werten, Weltanschauungen,
Glauben, Überzeugungen, Vorstellungen usw. „unterhalb“ desselben.
Jürgen Bolten versteht Kultur seinerseits als „Prozess und/oder als
Ergebnis spezifischer Formen von Beziehungspflege […] und zwar in
Hinblick auf: (1) soziale Kontexte (Soziokultur) (2) natürliche/bearbeitete
Umwelten (Agri-/Ökokultur) (3) sinnstiftende Instanzen (cultura Dei)
(4) die Person / das Selbst eines Akteurs (cultura animi) also ausbilden,
wahren“.2 Der
Begriff der Kultur ist also heute so weit gegriffen, dass man sich
zu Recht fragen könnte, was eben nicht zu ihr
gehört. Desgleichen könnte man die Frage stellen, welcher Gegenstand qua
res nicht gleich ein res culturae ist,
also welche Realien nicht gleich Kulturrealien (oder Kulturrealia)
sind. Stolpert man über Steine auf der Straße – muss man sich dann
gleich überzeugen, dass man Kulturrealien begegnet ist? Bei jenen
Stolpersteinen allerdings, die an die Opfer des Holocaust erinnern,
wäre die Lage grundsätzlich anders: Da tritt gleichsam das „Ding“
aus seinem kultur- und wertneutralen Status heraus, indem es im Prozess
einer Vergeistigung eine kulturelle Signifikanz erhält. Der Stolperstein
wird damit als Zeichen eines Erinnerungsortes aus der grauen Masse
der Pflastersteine (die allerdings in ihrer geplanten Anordnung ihrerseits
Zeichen etwa einer Verkehrskultur sein können) zu einer besonderen
kulturellen Bedeutung erhoben. Seine kulturelle Semantisierung ist
dabei kontextabhängig; er wird erst dekodierbar in einem geschichtlichen,
biographischen oder kulturellen Kontext.
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Man hat bereits die Realien als „Element[e] des
Alltags, der Geschichte, der Kultur, der Politik usw. eines bestimmten
Volkes, Landes oder Ortes, das keine Entsprechung bei anderen Völkern,
in anderen Ländern oder an anderen Orten hat“3 bestimmt.
Die Definition trifft erst recht für Kulturrealien zu, ja sie ist
eigentlich nur für Kulturrealien anwendbar. Denn
wieso sollte man erwarten, dass res in genere, also
Realien des Alltags nur an einem bestimmten Ort anzutreffen seien?
Es kommt der Verdacht auf, dass man es mit der simplifizierten Form
‚Realien‘ zu leicht nahm, als man ihr Kulturspezifika „unterschieben“
wollte. Will man Letztere mitbedenken, so scheint erneut der Terminus
‚Kulturrealien‘ angebracht.
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Was passiert nun, wenn man von konkreteren Gegenständen
wie einem Stolperstein oder einer Kuckucksuhr zu abstrakten Begriffen
kommt, wie ‚Holocaust‘ oder ‚Zeit‘? Man bedenke nämlich, dass abstrakte
Begriffe unterschiedliche Grade der Abstraktion zeigen können, bzw.
den Umstand, dass der „konkrete“ (denotative) und „abstrakte“ Sinn
der Dinge nicht unbedingt bzw. nicht immer einen scharfen Gegensatz
bilden, sondern häufig eher stufenweise Übergänge von Konkreta und
Abstrakta selbst in der Alltagssprache bilden. (Denn wie konkret oder
abstrakt ist ein Wort wie z. B. ‚Gefasel‘ oder ‚Kalauer‘?) Der Terminus
‚Realien‘ suggeriert hingegen, dass man sich auf dem Boden reeller,
d. h. konkreter Dinge bewegt, wo Abstrakta keinen Platz haben. Dabei
können Kulturspezifika durchaus abstrakte Komponenten (z. B. Wertvorstellungen)
implizieren, ebenso, wie eine kulturelle Erbschaft nicht nur konkrete
Kulturrealien, sondern auch abstraktere, „geistigere“ Inhalte impliziert.
Da wäre man sogar geneigt, lieber von Kulturabstrakta als schlicht
von Kulturrealien zu sprechen, wenn sie nicht als zu forciert oder
spitzfindig erscheinen würden für kultur- und übersetzungswissenschaftliche
Diskurse, in denen sich ‚Realien‘ wie ‚Kulturrealien‘ schon längst
eingebürgert haben.
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Bleiben
wir also bei ‚Kulturrealien‘, wobei wir nicht aus den Augen verlieren
sollten, dass sie nicht nur res concreta, sondern
auch res abstracta meinen, und dazu noch eine differentia
specifica culturalis enthalten. Ein Erinnerungsort ist
beispielsweise ebenso wenig nur ein Sammelsurium von Objekten wie
z. B. Gedenktafeln an oder Kugeln in der Fassade eines Gebäudes, wie
eine Burg nur ein Haufen Quadersteine ist. Es ist das Kulturgedächtnis,
das aus Steinen Erinnerungsobjekte bzw. aus Realien eben Kulturrealien
macht.
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Letztere zeigen
die spezifischen Merkmale einer Ausgangskultur, ja sie sind gleichsam
Vorboten und Ideenträger derselben, die besondere Anforderungen an
den Übersetzer stellen. Dieser muss am besten über eine gründliche
Sprachkompetenz in beiden Sprachen bzw. über eine Kulturkompetenz
verfügen, d. h. die Ausgangskultur, zu der der Text gehört, gründlich
und in Detail kennen, bzw. er muss sich in die kulturellen Inhalte,
die im Text latent oder manifest einkodiert sind, vertiefen. Dass
er gleichzeitig die Zielsprache und Zielkultur in aller Breite und
Tiefe kennen muss, versteht sich wie von selbst. Das Übersetzen ist
insofern eine Form interkultureller Kompetenz, als sich der Übersetzer
in beiden Kulturen, zwischen denen er vermittelt, auskennen muss,
was aber keine Selbstverständlichkeit ist, wie dies viele fehler-
oder mangelhafte (literarische) Übersetzungen immer wieder an den
Tag legen. Allerdings hat auch die interkulturelle Kompetenz ihre
Grenzen, die für den Übersetzer eine große Herausforderung bedeuten
können. Denn, selbst wenn er sich als Meister beider (oder gar mehrerer)
Kulturen zeigt, kann ihm die Übersetzung von Kulturinhalten und damit
auch von Kulturrealien gegebenenfalls unüberwindliche Schwierigkeiten
bereiten, insofern kulturelle Unterschiede auch mit sprachlichen Differenzen
einhergehen, die bei aller Kreativität oder Ingeniosität übersetzerischer
Kunst letztendlich unüberbrückbar bleiben. Bei allen ausgefeilten
Strategien der Übersetzung von Kulturrealien wie Direktübernahme,
Lehnübersetzung, Explikation, Analogieverwendung, Auslassung, Hinzufügung,
Hyponyme oder Hyperonyme usw., die heute bekannt sind und im Prozess
der Übersetzung angewandt werden, können bestimmte translatorische
Kontexte die interkulturelle Kompetenz des Übersetzers überfordern.
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Tóth J., V. Szabó L. (eds) (2025). Übersetzung und kulturelles Gedächtnis – Translation and Cultural Memory. Akadémiai Kiadó – Pannon Egyetemi Kiadó. https://doi.org/10.1556/9789636641863. (Letöltve: 2025. 12. 18. https://mersz.hu/dokumentum/m1360uukg__83/#m1360uukg_81_p9)
All dem sei noch hinzugefügt, dass
sich Kulturdifferenzen nicht nur auf synchroner, sondern auch auf
diachroner Ebene manifestieren können, d. h. sich den „räumlichen“
kulturellen Unterschieden auch zeitliche gesellen können. Als Beispiele
ließen sich eben die ungarischen Nietzsche-Übersetzungen nennen, die
im Laufe der letzten mehr als hundert Jahre bunte sprachliche Variationen
zeigten. Die Übersetzung eines (hier: philosophischen) Textes ist
eine spezifische Form seiner Rezeption, welche ihrerseits zeitlich,
räumlich und kulturell bedingt ist; sie wandelt mit der Zielkultur
und damit – oder eben parallel dazu – auch mit der Zielsprache. Die
ungarische Sprache hat sich in den letzten hundert Jahren auch klar
geändert, vor allem lexikalisch, aber auch morphologisch-syntaktisch,
wofür auch die Unterschiede zwischen den Nietzsche-Übersetzungen am
Anfang bzw. vom Ende des 20. Jahrhunderts deutliche Belege liefern.
Auf einige Differenzen dieser Übersetzungen in den zwei Epochen soll
deshalb noch eingegangen werden.
1 Für Eagleton beginnt diese
geistig-moralische Aufwertung des Kulturbegriffs sogar erst mit Matthew
Arnold (1822–1888); vgl. Terry Eagleton: Was ist Kultur? Eine Einführung.
C.H. Beck: München 2001, S. 7. Diese Annahme kann man aber mit Recht
als übertrieben empfinden. Es ist nämlich schwer denkbar, dass etwa
Goethe oder Schiller von keinem geistigen Kulturbegriff gewusst hätten.
2 Jürgen Bolten: Interkulturelle
Kompetenz. 5. Auflage. Landeszentrale für Politische Bildung Thüringen:
Erfurt 2012, S. 10.
3 Elisabeth Markstein: Realia.
In: Snell-Hornby et al. (Hrsg.): Handbuch Translation. G. Narr: Tübingen
1998, S. 288.