1. Einleitende Überlegungen

Jegyzet elhelyezéséhez, kérjük, lépj be.!

Ein Versuch, Kulturrealien zu definieren, führt notgedrungen zur Frage nach Realien schlechthin, die semantisch aus dem lateinischen Wort res stammen, womit man generell bei den „Dingen“ angekommen ist, was immer sie bedeuten wollen. Es ist nun eine erkenntnistheoretisch seit Langem diskutierte Frage, ob sich die „Dinge“ an sich erkennen lassen, oder aber ihre Erkenntnis nichts anderes sei als eine Vorstellung, d. h. eine mentale Abbildung derselben. Will man die Dinge (Gegenstände) begreifen, so entstehen im erkennenden Bewusstsein eben Begriffe gleichsam als geistige Abdrücke, die aber nicht mehr Dinge oder Gegenstände an sich, sondern ihre geistigen Äquivalenten sind, d. h. Vorstellungen, deren Entstehung aber nicht nur vom betreffenden „Ding“, sondern auch von subjektiven oder objektiven Faktoren, wie etwa Erfahrungen psychologischer oder kultureller Natur, beeinflusst werden. Unsere Erkenntnisse sind psychologisch und kulturell „gefärbt“; was wir als Wahrheit der Erkenntnis wahrnehmen wollen, ist letztendlich ein Ergebnis unserer mehr oder weniger subjektiven Kulturerfahrung.

Jegyzet elhelyezéséhez, kérjük, lépj be.!

Wenn man sich – etwa im Prozess des Lesens oder Übersetzens – ein res vergegenwärtigt, so ist damit nicht besagt, dass es vollkommen identisch sein muss mit dem Gegenstand, der dem Autor/der Autorin (im Folgenden: ‚Autor‘) beim Schreiben des Textes vorschwebte. Der in der Einbildung des Lesers „entstandene“ Gegenstand kann in vielerlei Hinsicht abweichen von jenem, der vom Autor intendiert wurde. Dies umso mehr, je größer die Kulturdifferenz zwischen Autor und Leser bzw. zwischen dem Kulturmilieu der Produktion und jenem der Rezeption des Textes. Mit dem Übersetzer kommt allerdings ein weiterer Akteur ins Spiel, der sich nicht nur zwischen Autor, Text und Leser stellt, sondern gleichzeitig die Rolle einer Vermittlungsinstanz zwischen zwei (oder gar mehreren) Sprachen und Kulturen übernimmt. Übermittlung bzw. Übertragung der Sprache(n) ist auch Übermittlung der Kultur(en): Geht man von diesem Grundsatz aus, so liegt die Annahme nahe, dass Realien vielmehr Kulturrealien sind. In der Tat könnte man geneigt sein, alle Realien gleich als Kulturrealien zu betrachten: Eine solche semantische Gleichstellung würde allerdings einem weitgefassten Kulturbegriff entsprechen, einem also, der sich auf alle Gegenständlichkeiten ausdehnt und sozusagen keine Tasse Kaffee an sich und „isoliert“, sondern nur in kulturellem Kontext betrachtet.

Jegyzet elhelyezéséhez, kérjük, lépj be.!

Das wäre also ein radikaler Kulturbegriff, dem nichts entgeht, der also alle Objekte der äußeren Welt gleichsam einverleibt. Nun weiß man zunächst, dass die Etymologie des Wortes ‚Kultur‘ auf den Ackerbau (Pflug und pflegen) der römischen Zeiten (cultura), also auf die Gegenständlichkeiten landwirtschaftlicher Arbeit zurückverweist und erst in der Neuzeit einen geistig-moralischen Inhalt erlangte.1 Die Materialität der Objekte erhielt damit eine geistig-kulturelle Dimension oder, um es so zu formulieren, Realien „begannen“ Kulturrealien zu werden. Die differentia specifica zwischen Kultur in diesem modernen vs. ihrem alten, materiellen Sinn wurde damit der „Geist“, was man auch darunter verstand oder versteht, also ein spiritueller Inhalt, den man der Kultur bis heute nicht abstreiten kann. Zur Geschichte des ‚Kultur‘-Begriffs gehören zudem seine konzeptuell-weltanschaulichen Gegenüberstellungen (Dichotomien) wie Natur und Kultur, Natur und Geist, Natur und Idee ebenso wie Versuche der Relativierung oder gar Dekonstruktion solcher semantischen Oppositionen.

Jegyzet elhelyezéséhez, kérjük, lépj be.!

Der Begriff ‚Kultur‘ weiß eine lange Geschichte hinter sich von ihrer ursprünglichen, konkreteren Bedeutung bis hin zu ihren abstrakten, komplexen Definitionen in den heutigen Kulturtheorien. Sie weist heute eine Unzahl von Definitionen und Beschreibungsmodellen auf, etwa als Sozialisationsprozess (Geert Hofstede), als „Zwiebelschale“ (Alfons Trompenaars) mit der äußeren (Essen, Sprache, Kleidung: „explizite Kultur“) und mittleren „Schale“ (Werte und Normen) sowie mit dem „Kern“ (grundlegende Annahmen über die menschliche Existenz überhaupt); oder als „Eisberg“ mit manifesten Erscheinungsformen wie menschliches Verhalten, (Körper)Sprache, Tracht „über dem Wasserspiegel“ und (latenten) Werten, Weltanschauungen, Glauben, Überzeugungen, Vorstellungen usw. „unterhalb“ desselben. Jürgen Bolten versteht Kultur seinerseits als „Prozess und/oder als Ergebnis spezifischer Formen von Beziehungspflege […] und zwar in Hinblick auf: (1) soziale Kontexte (Soziokultur) (2) natürliche/bearbeitete Umwelten (Agri-/Ökokultur) (3) sinnstiftende Instanzen (cultura Dei) (4) die Person / das Selbst eines Akteurs (cultura animi) also ausbilden, wahren“.2 Der Begriff der Kultur ist also heute so weit gegriffen, dass man sich zu Recht fragen könnte, was eben nicht zu ihr gehört. Desgleichen könnte man die Frage stellen, welcher Gegenstand qua res nicht gleich ein res culturae ist, also welche Realien nicht gleich Kulturrealien (oder Kulturrealia) sind. Stolpert man über Steine auf der Straße – muss man sich dann gleich überzeugen, dass man Kulturrealien begegnet ist? Bei jenen Stolpersteinen allerdings, die an die Opfer des Holocaust erinnern, wäre die Lage grundsätzlich anders: Da tritt gleichsam das „Ding“ aus seinem kultur- und wertneutralen Status heraus, indem es im Prozess einer Vergeistigung eine kulturelle Signifikanz erhält. Der Stolperstein wird damit als Zeichen eines Erinnerungsortes aus der grauen Masse der Pflastersteine (die allerdings in ihrer geplanten Anordnung ihrerseits Zeichen etwa einer Verkehrskultur sein können) zu einer besonderen kulturellen Bedeutung erhoben. Seine kulturelle Semantisierung ist dabei kontextabhängig; er wird erst dekodierbar in einem geschichtlichen, biographischen oder kulturellen Kontext.

Jegyzet elhelyezéséhez, kérjük, lépj be.!

Man hat bereits die Realien als „Element[e] des Alltags, der Geschichte, der Kultur, der Politik usw. eines bestimmten Volkes, Landes oder Ortes, das keine Entsprechung bei anderen Völkern, in anderen Ländern oder an anderen Orten hat“3 bestimmt. Die Definition trifft erst recht für Kulturrealien zu, ja sie ist eigentlich nur für Kulturrealien anwendbar. Denn wieso sollte man erwarten, dass res in genere, also Realien des Alltags nur an einem bestimmten Ort anzutreffen seien? Es kommt der Verdacht auf, dass man es mit der simplifizierten Form ‚Realien‘ zu leicht nahm, als man ihr Kulturspezifika „unterschieben“ wollte. Will man Letztere mitbedenken, so scheint erneut der Terminus ‚Kulturrealien‘ angebracht.

Jegyzet elhelyezéséhez, kérjük, lépj be.!

Was passiert nun, wenn man von konkreteren Gegenständen wie einem Stolperstein oder einer Kuckucksuhr zu abstrakten Begriffen kommt, wie ‚Holocaust‘ oder ‚Zeit‘? Man bedenke nämlich, dass abstrakte Begriffe unterschiedliche Grade der Abstraktion zeigen können, bzw. den Umstand, dass der „konkrete“ (denotative) und „abstrakte“ Sinn der Dinge nicht unbedingt bzw. nicht immer einen scharfen Gegensatz bilden, sondern häufig eher stufenweise Übergänge von Konkreta und Abstrakta selbst in der Alltagssprache bilden. (Denn wie konkret oder abstrakt ist ein Wort wie z. B. ‚Gefasel‘ oder ‚Kalauer‘?) Der Terminus ‚Realien‘ suggeriert hingegen, dass man sich auf dem Boden reeller, d. h. konkreter Dinge bewegt, wo Abstrakta keinen Platz haben. Dabei können Kulturspezifika durchaus abstrakte Komponenten (z. B. Wertvorstellungen) implizieren, ebenso, wie eine kulturelle Erbschaft nicht nur konkrete Kulturrealien, sondern auch abstraktere, „geistigere“ Inhalte impliziert. Da wäre man sogar geneigt, lieber von Kulturabstrakta als schlicht von Kulturrealien zu sprechen, wenn sie nicht als zu forciert oder spitzfindig erscheinen würden für kultur- und übersetzungswissenschaftliche Diskurse, in denen sich ‚Realien‘ wie ‚Kulturrealien‘ schon längst eingebürgert haben.

Jegyzet elhelyezéséhez, kérjük, lépj be.!

Bleiben wir also bei ‚Kulturrealien‘, wobei wir nicht aus den Augen verlieren sollten, dass sie nicht nur res concreta, sondern auch res abstracta meinen, und dazu noch eine differentia specifica culturalis enthalten. Ein Erinnerungsort ist beispielsweise ebenso wenig nur ein Sammelsurium von Objekten wie z. B. Gedenktafeln an oder Kugeln in der Fassade eines Gebäudes, wie eine Burg nur ein Haufen Quadersteine ist. Es ist das Kulturgedächtnis, das aus Steinen Erinnerungsobjekte bzw. aus Realien eben Kulturrealien macht.

Jegyzet elhelyezéséhez, kérjük, lépj be.!

Letztere zeigen die spezifischen Merkmale einer Ausgangskultur, ja sie sind gleichsam Vorboten und Ideenträger derselben, die besondere Anforderungen an den Übersetzer stellen. Dieser muss am besten über eine gründliche Sprachkompetenz in beiden Sprachen bzw. über eine Kulturkompetenz verfügen, d. h. die Ausgangskultur, zu der der Text gehört, gründlich und in Detail kennen, bzw. er muss sich in die kulturellen Inhalte, die im Text latent oder manifest einkodiert sind, vertiefen. Dass er gleichzeitig die Zielsprache und Zielkultur in aller Breite und Tiefe kennen muss, versteht sich wie von selbst. Das Übersetzen ist insofern eine Form interkultureller Kompetenz, als sich der Übersetzer in beiden Kulturen, zwischen denen er vermittelt, auskennen muss, was aber keine Selbstverständlichkeit ist, wie dies viele fehler- oder mangelhafte (literarische) Übersetzungen immer wieder an den Tag legen. Allerdings hat auch die interkulturelle Kompetenz ihre Grenzen, die für den Übersetzer eine große Herausforderung bedeuten können. Denn, selbst wenn er sich als Meister beider (oder gar mehrerer) Kulturen zeigt, kann ihm die Übersetzung von Kulturinhalten und damit auch von Kulturrealien gegebenenfalls unüberwindliche Schwierigkeiten bereiten, insofern kulturelle Unterschiede auch mit sprachlichen Differenzen einhergehen, die bei aller Kreativität oder Ingeniosität übersetzerischer Kunst letztendlich unüberbrückbar bleiben. Bei allen ausgefeilten Strategien der Übersetzung von Kulturrealien wie Direktübernahme, Lehnübersetzung, Explikation, Analogieverwendung, Auslassung, Hinzufügung, Hyponyme oder Hyperonyme usw., die heute bekannt sind und im Prozess der Übersetzung angewandt werden, können bestimmte translatorische Kontexte die interkulturelle Kompetenz des Übersetzers überfordern.

Jegyzet elhelyezéséhez, kérjük, lépj be.!

All dem sei noch hinzugefügt, dass sich Kulturdifferenzen nicht nur auf synchroner, sondern auch auf diachroner Ebene manifestieren können, d. h. sich den „räumlichen“ kulturellen Unterschieden auch zeitliche gesellen können. Als Beispiele ließen sich eben die ungarischen Nietzsche-Übersetzungen nennen, die im Laufe der letzten mehr als hundert Jahre bunte sprachliche Variationen zeigten. Die Übersetzung eines (hier: philosophischen) Textes ist eine spezifische Form seiner Rezeption, welche ihrerseits zeitlich, räumlich und kulturell bedingt ist; sie wandelt mit der Zielkultur und damit – oder eben parallel dazu – auch mit der Zielsprache. Die ungarische Sprache hat sich in den letzten hundert Jahren auch klar geändert, vor allem lexikalisch, aber auch morphologisch-syntaktisch, wofür auch die Unterschiede zwischen den Nietzsche-Übersetzungen am Anfang bzw. vom Ende des 20. Jahrhunderts deutliche Belege liefern. Auf einige Differenzen dieser Übersetzungen in den zwei Epochen soll deshalb noch eingegangen werden.
 
1 Für Eagleton beginnt diese geistig-moralische Aufwertung des Kulturbegriffs sogar erst mit Matthew Arnold (1822–1888); vgl. Terry Eagleton: Was ist Kultur? Eine Einführung. C.H. Beck: München 2001, S. 7. Diese Annahme kann man aber mit Recht als übertrieben empfinden. Es ist nämlich schwer denkbar, dass etwa Goethe oder Schiller von keinem geistigen Kulturbegriff gewusst hätten.
2 Jürgen Bolten: Interkulturelle Kompetenz. 5. Auflage. Landeszentrale für Politische Bildung Thüringen: Erfurt 2012, S. 10.
3 Elisabeth Markstein: Realia. In: Snell-Hornby et al. (Hrsg.): Handbuch Translation. G. Narr: Tübingen 1998, S. 288.
Tartalomjegyzék navigate_next
Keresés a kiadványban navigate_next

A kereséshez, kérjük, lépj be!
Könyvjelzőim navigate_next
A könyvjelzők használatához
be kell jelentkezned.
Jegyzeteim navigate_next
Jegyzetek létrehozásához
be kell jelentkezned.
    Kiemeléseim navigate_next
    Mutasd a szövegben:
    Szűrés:

    Kiemelések létrehozásához
    MeRSZ+ előfizetés szükséges.
      Útmutató elindítása
      delete
      Kivonat
      fullscreenclose
      printsave