2. Von Ostpreußen nach Westdeutschland

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Das Thema Flucht und Vertreibung aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten erfuhr seit der Flüchtlingskrise in Europa im Jahr 2015 wieder stärkere Beachtung. Das inzwischen drei Generationen zurückliegende Ereignis: Flucht und Vertreibung aus Schlesien, Ostpreußen, den Masuren, dem Sudetenland und anderen Regionen im östlichen Europa wurde in den letzten Jahren medial durch Filme (zum Beispiel Die Flucht, ein ZDF-Film aus dem Jahr 2007), aber auch durch fiktionale literarische Werke wie Altes Land, thematisiert.

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In der unmittelbaren Nachkriegszeit prägten die zahlreichen neu hinzugezogenen Deutschen aus den Ostgebieten die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft. „In den ersten Wochen und Monaten stießen die Flüchtlinge und Vertriebenen bei den Einheimischen auf Mitgefühl: Die einen wie die anderen waren davon überzeugt, die Einquartierungen seien vorübergehend. Als sich dann abzeichnete, dass die Ostdeutschen bleiben würden, gab es vielerorts Ärger, denn die Wohnungsbewirtschaftung führte dazu, dass Alteingesessene Zimmer an Vertriebene abtreten mussten; in den westlichen Zonen lebten nun pro Quadratkilometer weit über 200 Menschen statt wie vor dem Krieg 160.“1

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Das sogenannte Wirtschaftswunder und der zunehmende materielle Wohlstand der Bürger erreichten auch die neu ankommenden Deutschen aus dem Osten. Den traumatischen Erfahrungen der Menschen, die auch in dem Verlust von Angehörigen, Häusern und Heimat ihren Ursprung hatten, wurde in der wirtschaftlich boomenden Nachkriegsgesellschaft wenig Beachtung geschenkt. Das Schicksal der Kinder wurde ebenfalls dementsprechend weitgehend ignoriert.

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„Die Kinder, denen die Funktion des Bindeglieds zwischen Flüchtlingen und Einheimischen zugewiesen wurde, gerieten in einen inneren Spagat. Die Schule und die neue Heimat setzten sie unter starken Anpassungsdruck, und auch die Eltern wollten mit ihren Kindern beweisen, dass ‚wir aus dem Osten so gut sind wie die Einheimischen‘. Aber die Eltern empfanden die Aufgabe des alten Dialekts oder die Übernahme neuer Sitten auch als Verrat. So pendelten die Kinder zwischen zwei Welten, zwei sich ausschließenden Anforderungen, denen sie nicht gleichzeitig genügen konnten. Innerlich fühlten sie sich oft zerrieben, erfüllten sie äußerlich auch alle Erwartungen.“2

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Helga Hirsch stellt für die Nachkriegsgenerationen im Hinblick auf die durch Flucht und Vertreibung neu hinzugezogenen Deutschen drei verschiede Phasen des Erinnerns dar: Mitleid, Schuld und Trauer, verursacht durch den Verlust von Identität. „Bei Angehörigen der zweiten und dritten Generation schließlich, die zwischen 30 und 60 Jahre alt sind, steht in Ost- wie in Westdeutschland die Entdeckung von bisher tabuisierten und ausgeklammerten Familiengeschichten im Vordergrund, die Suche nach Wurzeln, nach geheimnisvollen, nicht erklärbaren Familienlegenden, die Suche nach Identität.“3

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Die Auseinandersetzung mit dem Verlust von Identität und Heimat findet nicht nur in den Familien, sondern in einem breiteren sozialen und kulturellen Kontext statt. Aleida Assmann, die sich mit dem Erinnern als Prozess und Erinnerungskultur als überindividuellem Phänomen beschäftigt, begründet in ihrer Auseinandersetzung die Konjunktur des Generationenromans.

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„Der Schritt von der Lehre der Geschichte zu den Leerstellen der Erinnerung [Hervorhebungen im Original] ist signifikant für die tiefgreifende Transformation der Gattung [Familien- oder Generationenroman – K. G.]. Offensichtlich haben wir es hier mit einem neuen Konzept von Exemplarität zu tun.“4

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„Es geht zum einen um eine Auseinandersetzung mit dem Thema Flucht und Identität in den Nachkriegsgenerationen in der Kunst, hier speziell in der Literatur, die eine besondere Beachtung erfährt. In Deutschland ist es nun besonders die Literatur, in der generationale Konzepte dazu dienen, den Wandel im Umgang mit der Vergangenheit kommentierend und bewertend ins kollektive Gedächtnis einzuschreiben: Das Konzept der Generationen hilft hier in der Form literarischer Narrative eine komplexe, postmoderne Gegenwart, in der Fragen von historischer Wahrheit und Zeitzeugenschaft problematisch geworden sind, zu erklären. Zentral ist hierbei unter anderem die Spannung zwischen dem umkämpften Kollektivgedächtnis, das mit der Geschichtsschreibung konkurriert bzw. dessen Stelle zu einem Teil eingenommen hat, und dem Individuum mit seinen Erinnerungen.“5

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Zum anderen bezeichnet Astrid Erll die Funktion des Familiengedächtnisses als Verbindung zwischen individuellem und kollektivem Erinnern. „Families serve as a kind of switchboard between the individual memory and larger frames of collective remembrance.“6
 
1 Helga Hirsch: Flucht und Vertreibung. Kollektive Erinnerung im Wandel. https://www.bpb.de/apuz/27383/kollektive-erinnerung-im-wandel
2 Ebd.
3 Ebd.
4 Aleida Assmann: Unbewältigte Erbschaften. Fakten und Fiktionen im zeitgenössischen Familienroman. In: Andreas Kraft – Mark Weißhaupt (Hrsg.): Generationen: Erfahrung – Erzählung – Identität. Konstanz 2009, S. 52.
5 Andreas Kraft – Mark Weißhaupt: Erfahrung – Erzählung – Identität und die „Grenze des Verstehens“: Überlegungen zum Generationenbegriff. In: Dies. (Hrsg.): Generationen: Erfahrung – Erzählung – Identität. Konstanz 2009, 42f.
6 Astrid Erll: Locating Family in Cultural Memory Studies. In: Journal of Comparative Family Studies 3/2011, S. 315.
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