2. Der „Schoß, dem aller Dreck entsteigt“ – Dekonstruktion der Erinnerungsgemeinschaft in Reinhard Jirgls Roman Die Unvollendeten (2003)

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Der Rekurs auf die zeitgeschichtlichen Erfahrungen der unmittelbaren Nachkriegsjahrzehnte in Bachmanns Todesarten-Projekt erfolgt weitestgehend über die Darstellung der Topographien Wiens, der Kärntner Provinz und ausgewählter Schauplätze der Bundesrepublik. Die Texte skizzieren somit den sozialen und historischen Kontext der „letzten zwanzig Jahre“1 nach 1945 vor allem mit Blick auf die österreichische Nachkriegsgesellschaft.2 Während die kollektivgeschichtlichen Erfahrungen und deren Verarbeitung im Familiengedächtnis in Der Tod wird kommen undatiert und weitestgehend abstrakt bleiben, veranschaulicht der ausgewählte Vergleichspunkt des Romans Die Unvollendeten (2003) von Reinhard Jirgl den konkreten Kontext von Flucht- und Vertreibungserfahrungen der deutschen Zivilbevölkerung während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Jirgls Roman zählt mittlerweile zu den kanonischen Generationenromanen der deutschsprachigen Erinnerungsliteratur,3 der über die Inszenierung einer erinnernden ,dritten Generation‘4 Flucht- und Vertreibungserfahrungen der deutschen Historie des 20. Jahrhunderts reflektiert.

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Über die Zusammenführung von Zeitzeugen- und Nachgeborenenperspektive fokussiert der Roman Formen der intrafamiliären und transgenerationalen Bearbeitung von Erfahrungen als eine Form der ,Übersetzung‘ von individuellen Traumata im Familiengedächtnis. Eine der Erzählfiguren ist Reiner, der Nachgeborene einer Familie, die im Sommer 1945 unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs aus dem Sudetenland vertrieben und über Umwege schließlich in einer Kleinstadt in der Altmark angesiedelt wird. Aus der Perspektive der Zeitzeugen, Reiners Mutter Anna sowie seiner Großmutter Johanna, thematisiert der Text die prägenden Erfahrungen der Vertreibung, des Überlebens auf der Flucht sowie Ankunft, Orientierung und Weiterleben in der sowjetischen Besatzungszone. Die Figur Reiner repräsentiert daneben die Perspektive eines in der DDR aufgewachsenen Nachgeborenen. Dessen Krebserkrankung zum Zeitpunkt der Erzählgegenwart im dritten Teil des Romans verweist symbolisch auf unbewusste Formen der Weitergabe unverarbeiteter historischer Erfahrungen im Familiengedächtnis. Die Metapher des ,Unvollendetseins‘ als Ausdruck des Mangels und des permanenten Übergangs charakterisiert alle im Zentrum stehenden Figuren. Im Hinblick auf die im Text lesbaren Funktionsweisen des Familiengedächtnisses erscheint die Sozialstruktur der Familie aus der Perspektive Reiners zunehmend fragil.

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Das Konzept ,Familie‘ erscheint in Jirgls Roman ebenso wie das der ,Heimat‘ einerseits als Projektionsfläche einer imaginierten, unbeschädigten Welt, wobei vor allem Hanna immer wieder einen Familien-Begriff postuliert, der für sie die Ideale des Zusammenhalts und der Fürsorge als „die wesentlichen Regeln für menschliches Zusammenleben“5 beinhaltet. Andererseits entpuppt sich die ,Familie‘ aus Reiners Perspektive als Keimzelle für die Erzeugung und Weitergabe traumatischer Erfahrungen, die der Entwicklung einer stabilen Identität zuwiderlaufen. Das Spannungsverhältnis zwischen idealisiertem Zusammenhalt und der Realität des Verfalls determiniert somit das Zugehörigkeitsbewusstsein der Figuren zum Familienkollektiv. Die Familie wird dabei als eine stabilisierende Struktur idealisiert, die den Individuen Sicherheit und Schutz gegenüber einer sich stets transformierenden sozialen Welt gewähren soll. Allerdings wird der von Hanna im Text stets wiederholte Leitsatz: „Wer seiner Familie den Rücken kehrt […] der taugt Nichts“,6 auf der Handlungsebene immer wieder mit Situationen kontrastiert, in denen die Familie als stabilisierende Instanz versagt.

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Bei Jirgl erscheint der Verfall der Familie sowohl im Hinblick auf absente Vaterfiguren als auch mit Blick auf die zunehmend geschwächte Position der Mutterfiguren: Auf der einen Seite tritt von den im Text genannten Vätern auf der Handlungsebene lediglich Erich als leiblicher Vater von Reiner auf – er verschwindet aber noch vor dessen Geburt –, auf der anderen Seite veranschaulichen die Mutter-Kind-Beziehungen Kommunikationsstörungen und Vertrauensschwierigkeiten. Dem Postulat des unbedingten Familienzusammenhalts steht die Realität eines lediglich durch äußere Bedingtheiten verbundenen Kollektivs gegenüber. In Die Unvollendeten zeigt sich, inwiefern individuelle Traumata im Familienkollektiv eben nicht auf produktive Weise in die Wir-Erzählung der Gruppe integrierbar sind, sondern wie gerade im Kontext der Familie traumatische Strukturen reproduziert werden, die die Familiengemeinschaft zersetzen. Das resignierte Urteil Reiners charakterisiert die Familie dementsprechend als den „Schoß, dem aller Dreck entsteigt“7 und markiert die Sphäre des eigenen Ursprungs somit als eine identitätszersetzende Kraft.

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Bereits in Der Tod wird kommen erscheint die ,Übersetzung‘ historischer Erfahrung im Familiengedächtnis gestört, insofern individuelle Tiefendimensionen von Schuld und Traumata ausgespart und unausgesprochen bleiben. Die Unvollendeten zielt auf die Auswirkungen solcher Aussparungen und die Frage, wie Erfahrungen und Narrative unbewusst bis in die ,dritte Generation‘ weitergegeben werden. Reiner erinnert sich, dass er als Kind, während Hannas Dienst in der Birkheimer Bahndirektion, auf die Rückseiten alter Formulare malte, „was ich gehört hatte von der-Heimat-Komotau, den Nazis & der-Vertreibung –: In mir geweckte abstruse Ungeheuer, Massaker-Szenen etagenweise in bizarren Miethäusern, Söldner & Henkersknechte unter roten Kapuzen mit Augenschlitzen […]“.8 Die kindliche Verarbeitung der häufig wiederholten Erzählungen der Kriegszeit veranschaulicht die Imagination konkreter Gewaltereignisse, die er selbst nicht erlebt hat, die ihm aber über Gespräche und Erzählungen vermittelt wurden. Die im Textsatz kursivierten Begriffe repräsentieren die innerfamiliären kollektiven Sprechweisen, die in Ausdruck und Habitus Narrative der Verlust- und Diskriminierungserfahrungen als Kriegsflüchtlinge aufgreifen. Entsprechend der Theorien zum sozialen und kommunikativen Gedächtnis, setzen sich Reiners Vorstellungen der Kriegszeit und der Vertreibung aus kollektiv vermittelten Erzählungen zusammen. Maßgeblich gesteuert durch die Wertungen Hannas manifestiert sich somit im Familiengedächtnis ein Selbstverständnis als Opfer, das Reiner im Laufe seiner Erzählung zunehmend dekonstruiert. Dennoch ist bezeichnend, dass er auch als Erwachsener von den Bildern der Kriegserfahrungen seiner Vorfahren heimgesucht wird. Zur Zeit seiner beruflichen und persönlichen Krise, in der er als Zahnarzt in einer Klinik in Lichtenberg angestellt ist, ist er erneut mit der Gewalt des Bombenkriegs konfrontiert: „Die Nächte jener Zeit voll Brandnarben, Fleischbrocken in den Träumen.“9 Die Auswirkungen der „kommunikative[n] und habituelle[n] Weitergabe von Gewalt- und Verlusterfahrungen“10 zeigen sich mit Blick auf die Figur Reiner demnach in Formen der sekundären Traumatisierung durch Krieg und Vertreibung. In der rückblickenden Perspektive erfolgt schließlich der Versuch einer Aufarbeitung dieser familieninternen Kommunikationsstrukturen, die zugleich eine Abrechnung mit seiner Familiengeschichte ist.

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Anders als im oben skizzierten Erzählfragment Bachmanns wird in Jirgls Roman die Familie als eine desolate, vom Verfall gekennzeichnete Struktur offengelegt. Die Anlage der drei Frauenfiguren Johanna, Hanna und Anna repräsentiert eine matrilineare Genealogie, die mit der Geburt Reiners endet.11 Die Familiengenealogie zeichnet zugleich „eine historische Niedergangsbewegung, vom symbolischen Aufbruch der Vertreibung bis zum Scheitern in der Agonie des einzelnen männlichen Familienmitglieds“12 nach. Die Generationenfolge degenerierter Identitäten, symbolisiert durch die Namenskürzung von einer Generation zur nächsten, verweist bereits zu Beginn des Textes auf das identitätszersetzende Potential des kriegsbedingten Familientraumas. Mit dem Motiv defizitärer Familienstrukturen und dekonstruierter Genealogien greift Jirgl eines der zentralen Themen der Todesarten-Prosa Bachmanns auf. Fehlende Elternfiguren, mangelnde Informationen über deren Verbleib sowie spekulative Biographien während der NS-Zeit kennzeichnen das Generationenverhältnis in den Entwürfen zum Buch Franza, aber auch in denen des Requiem für Fanny Goldmann sowie des Goldmann-/Rottwitz-Romans und entwerfen ein Gegenbild zu dem in Der Tod wird kommen dargestellten Familiengedächtnis. Die im Familienkollektiv unter Verschluss gehaltenen Erfahrungen und Erinnerungen bahnen sich in den Todesarten-Texten über Träume und Krankheiten ihren Weg in die Lebensgeschichten der Nachgeborenen. Letztlich verweist sowohl bei Bachmann als auch bei Jirgl der fragile Zustand der Sozialstruktur Familie auf eine Destabilisierung des Kollektivs als Ort der intersubjektiven Vermittlung von Erfahrung. Im Hinblick auf die daraus resultierenden ,Leerstellen‘ sowie den hermetischen Charakter erscheint das Familiengedächtnis in beiden Texten als Spiegel des Verhältnisses von kulturellem Gedächtnis und Familiengedächtnis.
 
1 Bachmann: Wir müssen wahre Sätze finden, S. 66.
2 Göttsche, Dirk: ‚Ein Bild der letzten zwanzig Jahre‘. Die Nachkriegszeit als Gegenstand einer kritischen Geschichtsschreibung des gesellschaftlichen Alltags in Ingeborg Bachmanns ‚Todesarten‘-Projekt. In: Monika Albrecht – Dirk Göttsche (Hrsg.): Über die Zeit schreiben 1. Literatur- und kulturwissenschaftliche Essays zu Ingeborg Bachmanns ‚Todesarten‘-Projekt. Königshausen u. Neumann: Würzburg 1998, S. 160–202, hier S. 180ff.
3 Welzer, Harald: Schön unscharf. Über die Konjunktur der Familien- und Generationenromane. In: Mittelweg 36 (2004), 1, S. 53–64.
4 Zur erinnerungskulturellen Differenzierung von (Autoren-)Generationen und entsprechenden literarischen Erzählperspektiven siehe beispielsweise Assmann: Unbewältigte Erbschaften, S. 54f.
5 Reinhard Jirgl: Die Unvollendeten. Deutscher Taschenbuch Verlag: München 2007, S. 9.
6 Ebd.
7 Ebd., S. 246.
8 Ebd., S. 176.
9 Ebd., S. 160.
10 Śliwińska, Katarzyna: ‚Erinnern: Das heißt immer Wiedergängerei‘. Erinnerung und Trauma in Reinhard Jirgls Roman ‚Die Unvollendeten‘. In: Carsten Gansel – Paweł Zimniak (Hrsg.): Das Prinzip Erinnerung in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989. V&R: Göttingen 2010, S. 471–490, hier S. 477.
11 Lorenz, Matthias: ‚Familie – der Schoß, dem aller Dreck entsteigt‘. Sexuelle Gewalt und ihre intergenerationelle Tradierung als zentrale Motive in Reinhard Jirgls Familienroman ‚Die Unvollendeten‘. In: Jan Süsselbeck (Hrsg.): Familien-Gefühle. Generationsgeschichte und NS-Erinnerung in den Medien. Verbrecher: Berlin 2015, S. 219–252, hier S. 227.
12 Meier, Andreas: Die Rückkehr des Narrativen. Reinhard Jirgls ‚Deutsche Chronik‘. In: Volker Wehdeking – Anne-Marie Corbin (Hrsg.): Deutschsprachige Erzählprosa seit 1990 im europäischen Kontext. WVT: Trier 2003, S. 199–220, hier S. 215.
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