1. Theoretische Überlegungen

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Im Kontext der kulturwissenschaftlich orientierten Literaturwissenschaft werden literarische Texte als kulturell kodierte Zeichen (Zeichensysteme) aufgefasst, die in einem dynamischen Verhältnis zum kulturellen Wissen ihrer Entstehungszeit stehen. Literatur verarbeitet bei der Erzeugung und ästhetischen Inszenierung einer fiktionalen Welt Elemente einer Kultur, ihre textuellen Zeichen verweisen auch auf außertextuelle kulturelle Bedeutungen. Zur Beschreibung und Erfassung des Verhältnisses zwischen dem literarischen Text und seinem kulturellen Kontext könnte der Terminus Intertextualität im weitesten Sinne, d. h. verschiedene Spielarten der Intermedialität und Interdiskursivität eingeschlossen, herangezogen werden. Für Neumann und Nünning ist der kulturelle Kontext „ein intertextueller Zusammenhang, der Zusammenhang eines Feldes kulturell koexistierender Texte und Medien sowie der in ihnen und durch sie konstituierten Diskurse“.1 Durch intertextuelle Bezüge im weitesten Sinne steht der literarische Text im kulturellen Dialog mit seiner Entstehungszeit: „Erzählschemata, Wertehierarchien, ästhetisch-narrative Formen und Plotstrukturen synchroner Texte und Medien, die das kulturelle Außen des literarischen Textes konstituieren, werden durch Intertextualität sowie Intermedialität in sein Innen ‚hineingeholt‘.“2 Im Prozess der Integration und Reflexion kulturellen Wissens spielt die ästhetisch-narrative Gestaltung des Textes eine entscheidende Rolle: Topoi, Metaphern und Allegorien, aber auch Gattungsmuster und narrative Formen sind im kulturellen Kontext präfiguriert und gerade durch ihre Neustrukturierung, ihre spezifische Zusammenführung werden neue Bedeutungen erzeugt.

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Auf dieser theoretischen Grundlage kann eine Referenzform der Intertextualität, die Allusion, als Bestandteil eines kulturellen Kontextes aufgefasst werden, der die ästhetisch-narrative Struktur des Textes mitkonstituiert. Gerard Genette betrachtet in seiner Typologie Allusion bzw. Anspielung als eine der drei Formen der Intertextualität im engeren Sinne (neben Zitat und Plagiat), die durch eine „effektive Präsenz“ eines Textes in einem anderen gekennzeichnet ist. Sie ist aber eine viel weniger explizite und viel weniger wörtliche Form als Zitat oder Plagiat, d. h. eine kurze, bruchstückhafte, fragmentarische Aussage, deren volles Verständnis die Kenntnis des Prätextes beim Rezipienten voraussetzt.3

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In Susanne Holthuis’ Taxonomie4 nehmen Allusionen als Strategien referenzieller Intertextualität einen großen Stellenwert ein. Da sie Allusionen in einem erweiterten Sinne, auch als Kommunikationseinheiten in einem sozio-kulturellen Kontext auffasst, erscheint mir ihre Definition für meine Untersuchungen geeignet. Demnach sind Allusionen „indirekte“, „implizite“ Bezugnahmen auf einen Text oder einen Kontext.5 Ähnlich der Erkenntnis der kulturwissenschaftlich orientierten Literaturwissenschaft über kulturell kodierte Zeichen geht Holthuis davon aus, dass Zeichen eine kulturell vermittelte Bedeutung haben. Sie gründen in der Geschichte/Kultur eines Landes und werden zum Gelingen einer Kommunikation über solche Sachverhalte konventionalisiert vorausgesetzt. Allusionen sind sozio-kulturell determinierte ‚Kommunikationseinheiten‘,6 die wie folgt klassifiziert werden können:7

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  • Autornamen im inneren Kommunikationsrahmen, ohne dass der Titel des Referenztextes zitiert wird (z. B. in Goethes Werther errät Werther allein vom Namen Klopstocks, an welche Ode Lotte gedacht haben mag). Dabei ist die Referenz mittelbar, „erst über die Aktivierung entsprechenden Autor- und Texttypenwissens ist die Identifizierung des Referenztextes möglich“.8
  • Referenz auf extratextuelle (kulturelle) Faktoren (z. B. Celans „Hölderlintürme“).
  • Literatur in der Literatur (lesende, kommentierende Protagonisten/Erzähler – Namen von literarischen Gestalten (Faust, Hamlet), Titel, Handlungsorte, Themen, Textinhalt als Referenzindikatoren.
  • Kulturelle Einheiten als historische Abbreviaturen (z. B. Watergate, Stalingrad, Bismarck).
 

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Allusionen sind demnach kulturelle Kommunikationseinheiten, die in einer gegebenen Kommunikationsgemeinschaft zum gesellschaftlich-kulturellen ‚Normwissen‘ gehören. Sie müssen aber in Mitgliedern der gegebenen kulturellen Gemeinschaft gemeinsame Erfahrungen und Kenntnisse hervorrufen, um überhaupt als Allusionen fungieren zu können. In jeder Kultur gibt es einen mehr oder weniger tradierten Bestand „kultureller Anspielungsmarken“. Sie funktionieren, aber nur „unter der Bedingung, dass eine entsprechende Allusionskompetenz und ‚Resonanzbereitschaft‘ in der gegebenen Kommunikationsgemeinschaft vorausgesetzt werden kann“.9 Darum fungieren sie als Abbreviaturen, als „Form der ‚elliptischen Verständigung‘ über kulturell vermittelte Sachverhalte“.10

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Koppenfels betrachtet die literarische Übersetzung als eine spezifische Art der Bezugnahme auf fremde Texte, d. h. als eine Spielart der Intertextualität, die das im Text verankerte kulturelle Wissen, also kulturelle Gedächtnisinhalte vermittelt. Er setzt zwischen Prätext und Übersetzung eine diachrone (geschichtliche) und eine synchrone (kulturelle) Distanz voraus. Übersetzung will nationalsprachliche Grenzen überschreiten und „in hybridem Anspruch nicht nur das im Prätext Gesagte, sondern auch seine einmalige Art des Sagens nachbildend bewahren und erneuern“.11 Im idealen Fall wird nach totaler Reproduktion in einem neuen sprachlichen Zeichensystem und einem neuen kulturellen Kontext gestrebt. Doch Übersetzung als intertextuelle Schreibart ist nicht nur Wiederholung, sondern auch Änderung und Erneuerung des Wiederholten.

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Diese These lässt sich u. a. bei der Problematik der Übertragung von Allusionen bestätigen. Es gibt einige Übersetzungsstrategien, die entweder auf die Überwindung, Tilgung, Überspielung oder aber gerade auf die Betonung der kulturellen Distanz zwischen Prätext und Übersetzung abzielen. Ohne den Anspruch auf Vollständigkeit sollten hier einige Möglichkeiten in Anlehnung an Leppihalme stehen, die: die Allusion beibehalten; wenn es nötig, zusätzliche Erklärung hinzufügen; die Allusion durch einen anderen Ausdruck aus der Ausgangssprache oder der Zielsprache ersetzen; die Allusion weglassen und durch einen generalisierenden Ausdruck ersetzen; die Allusion vollständig weglassen.12
1 Birgit Neumann – Ansgar Nünning: Kulturelles Wissen und Intertextualität. Grundbegriffe und Forschungsansätze zur Kontextualisierung der Literatur. In: Marion Gymnich – Birgit Neumann – Ansgar Nünning (Hrsg.): Kulturelles Wissen und Intertextualität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien zur Kontextualisierung der Literatur. Wissenschaftlicher Verlag: Trier 2006, S. 3–28, hier S. 16.
2 Neumann–Nünning, Kulturelles Wissen, S. 16.
3 Vgl. Gerard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1993, S. 10.
4 Vgl. Susanne Holthuis: Intertextualität. Aspekte einer rezeptionsorientierten Konzeption. Stauffenburg: Tübingen 1993.
5 Holthuis, S. 123.
6 Vgl. Holthuis, S. 133.
7 Vgl. Holthuis, S. 129–131.
8 Holthuis, S. 129.
9 Vgl. Holthuis, S. 134. Holthuis beruft sich dabei auf F. Rodi: Anspielungen: Zur Theorie der kulturellen Kommunikationseinheiten. In: Poetica 7 (1975), S. 115–134.
10 Holthuis, S. 135.
11 Werner von Koppenfels: Intertextualität und Sprachwechsel. In: Ulrich Broich – Manfred Pfister: Intertextualität. G. Narr: Tübingen 1985, S. 137–158, hier S. 138.
12 Vgl. Ritva Leppihalme: Allusions and their Translations; file:///D:/Temp/57829-Artikkelin teksti-57946-1-10-20160512.pdf (Abruf am 25. 01. 2021).
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