2. Zur Geschichte der ungarischen Nietzsche-Übersetzungen

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Nietzsche zu übersetzen ist immer eine Herausforderung. Die Geschichte seiner ungarischen Übersetzungen ist nunmehr über ein Jahrhundert alt, sind doch ihre Anfänge auf die erste Phase der Nietzsche-Rezeption überhaupt zu datieren. Sándor Laczkó hat am Ende des letzten Jahrhunderts die ungarischen Nietzsche-Übersetzungen Revue passieren lassen.1 Daraus wird ersichtlich, dass die ersten Übertragungen (von 1891) nur Teilübersetzungen waren – eigentlich Auszüge aus diversen Werken Nietzsches in der Zeitschrift Élet –, während die ersten integralen Übersetzungen des Also sprach Zarathustra (Samu Fényes: Zarathustra. Mindenkinek és senkinek se való könyv) und des Jenseits von Gut und Böse (Bódog Vályi: Túl az erkölcs világán) auf 1907 zu datieren sind. Denen folgte bereits 1908 eine zweite Übersetzung von Nietzsches Zarathustra mit dem veränderten, archaisierenden Titel Imigyen szóla Zarathustra,2 der sich in dieser Form bis in die letzten Zeiten hinein ins Bewusstsein der Nietzsche-Leser und -Kenner einprägte. (Auch etwa die symphonische Dichtung von Richard Strauß ist ungarisch unter diesem Titel bekannt.) In den folgenden Jahrzehnten wurden weitere Bücher des deutschen Philosophen ins Ungarische übertragen, doch bei Weitem nicht alle – mit einigen, wie z. B. Der Antichrist oder Zur Genealogie der Moral, musste man sogar bis nach der Wende warten, als endlich ihre integralen Übersetzungen das Tageslicht erblickten.

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Dabei fällt auf, dass nach 1945 eine Zäsur in der Geschichte der ungarischen Nietzsche-Übersetzungen eintrat, was gewiss auf ideologische Gründe zurückzuführen ist. In der sozialistischen Ära gab es diesbezüglich einen großen Einschnitt, als infolge von Lukács’ Verdikt über die Verantwortung Nietzsches für die „Zerstörung der Vernunft“,3 d. h. für jenen vermeintlichen Irrationalismus, der letztendlich zum Nationalsozialismus geführt haben soll, die Nietzsche-Forschung in Ungarn ebenso wie die Übersetzung seiner Schriften abflauten. Nietzsche zu übersetzen wurde nunmehr zu einem gefährlichen, wenn nicht verbotenen Unterfangen, so dass man sich im sozialistischen Ungarn nur ganz selten erkühnte, seine Schriften ins Ungarische zu übertragen. Immerhin erschien 1972 eine Auswahl aus seinen Werken in der Übersetzung von Ede Szabó, während man dem späteren Literatur-Nobelpreisträger Imre Kertész die Übersetzung der Geburt der Tragödie zu verdanken hat (1986). Nach der Wende erfolgte dann ein veritabler Boom der ungarischen Nietzsche-Übersetzungen, deren schlichte Aufzählung eine allzu lange Liste ergeben würde. Dabei wurden nicht nur seine vollendeten Werke,4 sondern auch Fragmente aus seinem Nachlass in diversen Ausgaben veröffentlicht, deren Auswahlprinzip jedoch nicht immer leicht nachzuvollziehen ist. Die Titel solcher Ausgaben greifen bekannte Formeln aus Nietzsches Philosophie auf, so wie jene von 1994 betitelt Az értékek átértékelése („Umwertung aller Werte“) oder jene andere von 2002 betitelt A hatalom akarása („Der Wille zur Macht“). Gleichwohl wurde eine Auswahl aus seinen Briefen von 1861–1889 (aus der Colli–Montinari-Ausgabe) 2008 in der Übertragung von Gábor Romhányi-Török veröffentlicht. Nicht zu vergessen sind auch die Übersetzungen von Bio- und Monografien über Nietzsche, darunter jenes wundersame, gnostisch gefärbte Nietzsche-Buch eines deutsch-ungarischen Philosophen namens Eugen Heinrich Schmitt,5 das ursprünglich bereits 1898, also noch in der ersten Welle der Nietzsche-Rezeption überhaupt, in der Erstauflage und vier Jahre später nochmal (in Leipzig) erschien. Schließlich haben auch die Übertragungen der späteren (heutigen) Nietzsche-Bücher eines Ivo Frenzel, Jaques Derrida, Volker Gerhardt oder Rüdiger Safranski maßgeblich zur besseren Kenntnis des „Philosophen mit dem Hammer“ in Ungarn beigetragen.

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Diese Übersetzungen zeigen unterschiedliche Qualitäten, unterschiedliche Stile, ja sogar unterschiedliche Deutungen von Nietzsches Begriffen, Bildern und auch Kulturrealien. Der Vergleich einzelner Übertragungen, darunter mehrerer Übersetzungen desselben Nietzsche-Werkes, ist an sich aufschlussreich, denn er zeugt von der Schwierigkeit, denen die ungarischen Übersetzer seiner Werke immer wieder begegneten und begegnen, sowie von der mehrfachen Deutbarkeit von Nietzsches Begriffen und Kulturrealien.

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Nietzsche gilt als einer der bedeutendsten Spracherneuerer der deutschen Sprache, dessen Sprachkunst, verblüffende Formulierungen, erstaunliche Wortschöpfungen den Leser (zumindest seiner Originaltexte) in Staunen versetzen und den Übersetzer nicht selten vor fast unlösbare Aufgaben stellen. Sein dichterischer Stil, der Rhythmus seiner ans Musikalische grenzenden Sprache, sein provokativer Sprachwitz sind nur einige der Hindernisse, die seine Übersetzer zu bewältigen haben, besonders bei seinem „Gesamtkunstwerk“ Also sprach Zarathustra, das ja im Grunde ein poetisches Werk ist (allerdings mit einem komplexen philosophischen Inhalt),6 also nicht mit Begriffen, sondern hauptsächlich mit poetischen Bildern und einer Unmenge von bravourösen rhetorisch-stilistischen Mitteln operiert. Einige Lexeme in Zarathustra sind sogar Unikate (z. B. die Adjektiv-Reihe faulicht und lauicht und schaumicht), andere demonstrieren Nietzsches unstillbaren Appetit für Sprachwitz bzw. Wortspiel. Er kombiniert virtuos die Morpheme, um neue (nicht selten alliterierende) Lexeme oder Komposita, und damit auch eine neue Deutungspotenz seines Textes ins Leben zu rufen; z. B. schafichter Schäfer, Erbsünde-Erbtugend, Einsiedler-Zweisiedler, Wahrsager-Wahrlacher, Vorliebe-Vorhass oder Nächstenliebe-Fernstenliebe usw.

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Nietzsches Neigung zum Sprachwitz, zum spielerischen Umgang mit Lexemen und Morphemen zeigen gleichklingende Wortpaare wie z. B. gerecht-gerächt, weitsichtig-weitsüchtig, beleu- und belügemundet, Dunkler-Munkler, abwärts-abendwärts usw. Er lotete die poetische Funktion der Sprache mit einem Sprachgefühl ohnegleichen aus, wobei seine Wortspiele keinen Selbstzweck verfolgten, sondern eine Semantisierung verkörpern, die ihrerseits einem philosophischen Konzept unterliegt. Seine moralkritisch-antichristliche Lebens- und Weltanschauungsphilosophie, in deren Mittelpunkt etwa die Ideen der „Umwertung aller Werte“, des Übermenschen und der „ewigen Wiederkehr des Gleichen“ stehen, hat besonders im deutschsprachigen Raum am Ende des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts für viel Wirbel in der Philosophie und Kunst gesorgt, und prägte auch das Weltbild mancher ungarischen Dichter, darunter etwa von Jenő Komjáthy7 oder Endre Ady8 mit. Es ist wohl kaum übertrieben zu behaupten, dass Nietzsches Philosophie samt seiner innovativen und besonders aussagekräftigen Sprache nicht nur bestimmte Einzelautoren, sondern überhaupt die Kultur einer Epoche spürbar beeinflusste. Plötzlich gab es keinen Weg des Denkens mehr zurück vor Nietzsche, kaum einen Diskurs über die Moderne, der an ihm vorbeiführte. Aber auch bestimmte Wörter und Begriffe, unter denen der ‚Übermensch‘ nur eines der Paradebeispiele ist, hielten ihren Einzug in die (literarische) Sprache, ob in pathetische Nachdichtungen oder in parodistische Umdrehungen seiner Texte (vor allem seines Zarathustra) und Sprachformeln. Rudolf Pannwitz’ Behauptung, dass mit Nietzsche „die erdaxe [sic] sich gedreht hat“,9 ist wohl eine überhöhte Stilisierung von Nietzsches Bedeutung für die Moderne, dennoch ist seine Wirkung um 1900 und danach kaum zu überschätzen. Dieser Umstand trifft zum Teil auch für Ungarn zu.

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Die Nietzsche-Rezeption in Ungarn setzte Ende des 19. Jahrhunderts ein und lief praktisch parallel zu den Übersetzungen seiner Schriften, die aber zunächst sehr vorsichtig das Tageslicht erblickten. Es geht um die letzten Jahre oder Jahrzehnte der Doppelmonarchie, als die deutsche Sprache und Kultur ein organischer Teil der ungarischen war; dass ungarische Intellektuelle deutsch sprachen und lasen, galt als ebenso selbstverständlich, wie der Umstand, dass im damaligen Ungarn deutsche Bühnen besucht oder deutsche Bücher und Zeitungen bzw. Zeitschriften herausgegeben wurden. Noch Mitte des 19. Jahrhunderts war Deutsch die offizielle Sprache in Ungarn. Viele bekannte Persönlichkeiten der ungarischen (Kultur)Geschichte waren des Deutschen mächtig – so verfasste z. B. der Staatsreformer István Széchenyi sogar seine Tagebücher auf Deutsch –, zahlreiche deutsche Werke wurden von bekannten ungarischen Dichtern (z. B. Mihály Babits, Lajos Kassák, Lőrinc Szabó) ins Ungarische übertragen. Zudem lief die Rezeption der deutschsprachigen Literatur in Ungarn um 1900 mit einer Selbstverständlichkeit und Intensität, die selbst den heutigen Betrachter – oder erst recht ihn – in Staunen versetzen kann. Nietzsches (künstlerisch-philosophisch-philologische) Rezeption im Allgemeinen und die Übertragung seiner Texte im Besonderen erfolgte in Ungarn relativ schnell – im Kontext einer kulturellen Nähe zur, ja einer Verflechtung mit der Kultur des deutschsprachigen Raumes.

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Eine allzu große kulturelle Distanz zwischen der ungarischen und deutschen Kultur ist also zu jener Zeit, die unter dem Namen „glückliche Friedenszeiten“ (boldog békeidők) in die ungarische Geschichte bzw. Geschichtsschreibung eingegangen ist, kaum festzustellen. Die Schwierigkeiten der Übertragung von Nietzsches Werken ins Ungarische, einschließlich seiner Kulturrealien, ergaben und ergeben sich somit weniger aus kulturellen Unterschieden zwischen Deutschland und Ungarn als der Eigenart seiner Texte, der Virtuosität seines (individuellen) Sprachstils, den verblüffenden, provokativen, wenn nicht subversiven Elementen seiner Philosophie. Das Skandalöse seiner Ideen schlug zwar keine so hohen Wellen wie in Deutschland, doch hatten die ungarischen Nietzsche-Übersetzer mit einem neuen Ton, einem neuen rhetorischen Stil, einer erneuerten, um nicht zu sagen umgewälzten deutschen Sprache zu schaffen. Hinzu kam die tendenziös archaisierende Sprache des Also sprach Zarathustra, in dem Nietzsche Neologismen bewusst vermied, bzw. sein ganzes Bildungsgut, dass sich teils aus der Antike, teils aus der französischen Kultur speiste. Die meisten Texte Nietzsches wimmeln von Anspielungen und Querhinweisen auf Texte, Sprüche oder Zitate antiken, französischen, italienischen usw. Ursprungs, die den Übersetzer nicht selten dazu nötigen, dem Grundtext der Übersetzung manche Anmerkungen (Fuß- oder Endnoten), wenn nicht einen ganzen Apparat von Erklärungen und Erörterungen, hinzuzufügen.10 Das kann nicht nur etwa die von Nietzsche vergleichsweise häufig verwendeten Fremdwörter betreffen, sondern eben auch seine eigenen sprachlichen Formulierungen, die sich einer Übersetzung mit hohem Äquivalenzwert entziehen.
 
1 Vgl. Laczkó, Sándor: A magyar nyelvű Nietzsche-irodalom bibliográfiája 1872-től 1995-ig (közelítés) [Bibliografie der ungarischen Nietzsche-Literatur 1872–1995]. https://mek.oszk.hu/00600/00622/00622.htm#f1891 (gesehen am 05. 01. 2021).
2 Vgl. Nietzsche, Frigyes: Imigyen szóla Zarathustra. Übers. non Ödön Wildner. Grill Károly: Budapest 1908.
3 So der Titel von Lukács’ Buch (Ost-Berlin 1954), in dem der ungarische Philosoph und marxistischer Hauptideologe des sozialistischen Ungarn den Irrationalismus Nietzsches angriff und ihn sogar als den Wegbereiter des Nationalsozialismus diffamierte.
4 Darunter Götzendämmerung, Jenseits von Gut und Böse, Zur Genealogie der Moral (sogar zweimal) oder, hundert Jahre nach der ersten Übersetzung, auch Also sprach Zarathustra.
5 Vgl. Schmitt, Jenő Henrik: Friedrich Nietzsche két világkorszak küszöbén [im Original: Friedrich Nietzsche an der Grenzscheide zweier Weltalter. Leipzig 1898], übers. von László Vásárhelyi Szabó. In: Lajos Kőszegi (Hrsg.): Nietzsche-tár. Pannon Panteon: Veszprém 1996, S. 29–96. Dazu noch László V. Szabó: Die neugnostische Nietzsche-Deutung von Eugen Heinrich Schmitt. In: Renate Reschke – Marco Brusotti (Hrsg.): „Einige werden posthum geboren“. Nietzsches Wirkungen. Walter de Gruyter: Berlin–Boston 2012 (Nietzsche heute 4), S. 603–614.
6 So hat es u. a. auch Hans Georg Gadamer gesehen: „Denn [Also sprach Zarathustra] ist ein halbpoetisches Buch, das zur Gattung der Mimesis, der Imitation, gehört. Es ist ein literarisches Kunstwerk.“ Hans Georg Gadamer: Das Drama Zarathustras. In: Nietzsche-Studien 15. Berlin–New York 1986, S. 1–15, hier S. 5.
7 Vgl. dazu V. Szabó, László: Die ungarische Lyrik am Ende des 19. Jahrhunderts im Kontext der Philosophie Schopenhauers und Nietzsches (Reviczky und Komjáthy). In: Ingeborg Fiala-Fürst – Jürgen Joachimsthaler – Walter Schmitz (Hrsg.): Mitteleuropa: Kontakte und Kontroversen. Thelem: Dresden 2013, S. 109–122.
8 Vgl. Halász, Előd: Nietzsche és Ady. Ictus: Szeged 1995.
9 Rudolf Pannwitz: Die Krisis der europäischen Kultur. Hans Carl: Nürnberg 1917, S. 50.
10 So ergab etwa die ungarische Übersetzung von Nietzsches Zur Genealogie der Moral einen Apparat mit beinahe dreihundert Anmerkungen. Sie enthalten u. a. Hinweise auf lateinische Quellen, Erörterungen von griechischen und französischen Wörtern usw. Vgl. Friedrich Nietzsche: A morál genealógiájához. Vitairat. Übers. von László Vásárhelyi Szabó. Pannon Panteon: Veszprém 1998.
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