Die wissenschaftliche Erforschung der alten ungarischen Versliteratur befasste sich bisher eingehend mit den literarischen, geschichtlichen und metrischen Fragen der aus dem 16. Jahrhundert oder aus noch früheren Zeiten stammenden dichterischen Texte; sie befasste sich sogar auch mit ihren europäischen kulturgeschichtlichen Beziehungen, aber unternahm es nicht, das Ganze der zu diesen Texten gehörenden Melodien zu erschließen und in musikwissenschaftlicher Hinsicht zu bearbeiten. Die ungarische Versliteratur des 16. Jahrhunderts ist aber in ihrer Gesamtheit eine Liederdichtung: sämtliche Verstexte wurden gesungen, und dies entsprach nicht nur dem allgemeinen Gebrauch jener Zeit, sondern auch den eigenartigen, uralten Überlieferungen der ungarischen Dichtkunst. Die Texte sind meistens in Quellen ohne Noten bewahrt worden, aber beinahe über jedem Text findet sich der Hinweis auf die gebräuchliche oder brauchbare Melodie. Ausgenommen sind jene Stücke, welche bekannterweise zu einer bestimmten Melodie gehören. Es ist klar, dass die Ergebnisse jener literarhistorischen Forschungen, welche sich mit den Texten ohne die Kenntnis der Melodien befasst hatten, nicht vollkommen sein konnten. Die inneren, geschichtlichen Zusammenhänge, die auf die Nachbarvölker hinweisenden Kulturbeziehungen, die auftauchenden metrischen Probleme sowie schließlich die Beziehungen der Literatur zur Volksdichtung und Volksmusik machen die systematische Untersuchung der Melodien unentbehrlich. Auf diesem Gebiet sind Literaturgeschichte und Musikgeschichte wechselseitig aufeinander angewiesen.