Ein respektvoller Umgang und eine wertschätzende Haltung müssen zweifellos generell zu den Parametern einer modernen Gesellschaft gehören. Dabei ist jedoch die Unterscheidung zwischen Sprachsystem und Sprachverwendung (Kommunikation) wichtig: Das Genussystem, wie auch die gesamte morphologische Ordnung, ist im Deutschen als historisch gewachsenes und funktionierendes Medium mit einer 1500-jährigen Sprachgeschichte tief verankert, deshalb sind meines Erachtens Augenmaß und Besonnenheit angeraten. Vollkommene Symmetrie gibt es im Kategoriengefüge natürlicher Sprachen ohnehin nicht. Außerdem kann Sprache die realen Verhältnisse dieser Welt weder passgenau erfassen und abbilden noch direkt verbessern, dient sie doch vor allem der Kommunikation. Folglich kann und soll das Wörterbuch kein Gleichstellungsorgan sein.

Heute eskaliert die GS-Diskussion gleichsam zu einem normativ-moralischen Paradigma (mit zum Teil sogar aggressivem Moralisieren). Man hat dabei mitunter das Gefühl, dass manche Protagonist(inn)en exzessives Gendern mit „richtigem“ Bewusstsein, „richtiger“ Moral gleichsetzten. Gendernde betrachten sich oft als Avantgarde, fühlen sich als die „Humanen“ und maßen sich gleichsam eine moralische Hoheit sowie die Diskursmacht an; hingegen diffamieren sie die Gegner als reaktionär, die dem Fortschritt im Wege stehen. Beispielsweise liest man auf der Webseite des mit dem Deutschen Verlagspreis 2021 ausgezeichneten Verlags „w_orten & meer“, dass „die Ablehnung von gendergerechter Sprache eine patriarchale, weiße Agenda verfolgt“1 oder der Sprachwissenschaftler Stefanowitsch lässt Kritiker politisch korrekter Sprache indirekt in die Nähe von Sexisten, Rassisten usw. rücken (Stefanowitsch, 2018: 51). Indessen wittern radikale GS-Gegner einen zum Verfall des Deutschen führenden fundamentalen Angriff auf die Struktur der Sprache. Zu beiden Positionen sei kritisch angemerkt, dass die Linguistik als deskriptive Wissenschaft nicht zu einer Gesinnungswissenschaft verkommen sollte.

Bei der GS-Debatte ergibt sich ein entscheidendes Dilemma: Sollte sich sprachliche Sensibilität in einem offensiven Gendern oder eben im Gebrauch korrekter Morphologie, leistungsfähiger Syntax und reichen Vokabulars äußern?

Ferner kann man sich fragen, ob eine geschichtlich entstandene und gewachsene Sprache überhaupt gerecht sein kann. Denn „gerecht“ ist keine linguistische, sondern eine philosophische und gesellschaftswissenschaftliche Kategorie. Sprache ist weder gerecht noch ungerecht. Hier sind die erwähnten zwei verschiedenen Ebenen zu unterscheiden. An sich ist Sprache ein abstraktes System, also ein Objekt, das außerhalb der Maßstäbe von Gerechtigkeit steht. Hingegen kann – und meines Erachtens sollte – man in seinem sprachlichen Handeln, also in der Kommunikation, möglichst fair, d. h. „gerecht“, vorgehen, genauer so, dass Angesprochene das als gerecht empfinden. Da Sprache also im Gender-Zusammenhang weniger als System, vielmehr als Verwendung eine Rolle spielen sollte und weil Gerechtigkeit, wie gesagt, keine linguistische Kategorie ist, wäre es wohl angebrachter, statt von GS eher von einer geschlechtersensiblen Ausdrucksweise oder von einem geschlechtersensiblen kommunikativen Habitus zu sprechen.

Wenn man mit Mitteln der Sprache eine weitgehende Gerechtigkeit erzielen wollte, müsste man außer der Genderfrage auch z. B. an die Menschen mit verschiedenen Behinderungen denken. Wir sagen doch automatisch z. B. Auf Wiedersehen!, obwohl wir mit diesen Grußformeln, streng genommen, die sehbehinderten Menschen in gewissem Sinne ausschließen.2 Dies zeigt sich nicht nur, wie angesprochen, in symbolisch-prinzipieller Hinsicht, sondern auch technisch: Die GS verursacht wegen der Sonderzeichen Probleme beim Vorlesen mit einem Bildschirmlesegerät. So macht die Bildschirmlesesoftware aus LehrerInnen „Lehrer innen“ und aus Polizist:innen „Polizist Doppelpunkt innen“.3

Die zentrale Argumentationslinie der GS lautet, dass Frauen benachteiligt werden, weil sie in der Sprache unsichtbar sind, sodass Sprache reformiert werden muss, was sich dann auf die Gesellschaft auswirkt. Wie Prewitt-Freilino, Caswell & Laakso (2012: 272) formulieren: „Because the gendering of language has the power to impact how we think at an individual level, systems of language have the potential to shape entire social structures.“ Wenn das wirklich so wäre, müsste es in genuslosen Sprachkulturen wie Türkisch, Kasachisch, Ungarisch oder Japanisch mit der Gleichberechtigung der Frauen optimal aussehen. Aber auch zeitgenössische Forschungsergebnisse zeigen: „In the final analysis, the decisive factor for ‚sexism‘ in a language is the social construction of gender and the social treatment of women and men and not its grammatical structure“ (Braun, 2001: 306). Selbst die feministische Apologetin McConnell-Ginet (2014: 36) räumt ein: „To what extent the kind of gender system in a language constrains or promotes gender equity is not clear.“ Dem kann zusammenfassend nur hinzugefügt werden: Nicht Sprache verändert die Gesellschaft, sondern umgekehrt.

Andererseits lassen sich GS-Gegner in ihrem Eifer zuweilen zu Übertreibung und Falschdeutungen hinreißen: Ein Politiker regte sich kürzlich über das Wort Fahrspurende in einem Artikel der „Berliner Zeitung“ auf, indem er das Kompositum offenbar für eine geschlechtsneutrale Partizipialbildung von Fahrspur hielt (ähnlich wie beispielsweise Studierende statt Studenten). Gemeint hatte die Redaktion aber das Ende einer Fahrspur.4 Ein analoger Fall ereignete sich anhand des Wortes Drehende, gegen welches ein Sprachverein protestierte, obwohl es schlicht und einfach um das Ende eines Drehs ging.5

Man kann ohne Übertreibung festhalten, dass das GS-Thema zweifellos polarisiert; es ist sozusagen ein Wespennest, nahezu ein Schlachtfeld zwischen oft übermotivierten „Gerechtigkeitsherstellern“ und rigiden „Genderskeptikern“. Dieser Streit ums Gendern entzweit die Gesellschaft. Statt aufgeheizter rechthaberischer Debatten wären mehr Sachlichkeit und Gelassenheit beim Diskurs rund um eine geschlechtersensible Ausdrucksweise zu wünschen. So plädiere ich gegen Über- und für Augenmaß – ganz gemäß der alten Devise „Leben und leben lassen“. Wer gendern will, soll das tun. Wer das nicht will, soll es nicht tun. Doch keiner soll dem andern vorschreiben, was er zu tun oder zu lassen habe. Besonders in einer Gesellschaft, die achtsam, rücksichtsvoll und tolerant mit sich, mit ihren Minderheiten, aber auch mit ihren Mehrheiten umgeht. Denn die deutsche Sprache gehört doch allen Deutschsprecher(inne)n, ob als Mutter- oder als Fremd-/Zweitsprache.

Zusammenfassend befürworte ich eine respektvolle Kommunikationskultur und dabei eine reflektierte Verwendung von geschlechterbezogenen Bezeichnungen, stelle aber grammatische/orthographische Korrektheit, Verständlichkeit, Sprachökonomie und guten Lesefluss über eine kompromisslose Umsetzung eines durchgreifenden Genderns. Folglich lautet meine Gesamtbilanz kurzgefasst: Es ist im Grunde ein ehrbares Ansinnen, die Sprache fair zu gestalten und die Gleichsetzung der Geschlechter sprachkommunikativ auszudrücken. Dennoch: Gut gemeint ist nicht immer gut gemacht.